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André Leischner

Séparée: Vom freiberuflichen Architekten zum Fotografen: Wie ist es dazu gekommen, gab es ein Schlüsselerlebnis?

André Leischner: Das kann ich mit einem klaren Jein beantworten. Das eine Schlüsselerlebnis gab es in dem Sinne nicht. Vom Fotografieren leben zu können, diesen Traum hatte ich zwar schon lange, es gab aber einige Faktoren, die mich davon abhielten, in das kalte Wasser der Fotografen-Selbstständigkeit zu springen. Wenn man den Schritt in die Selbstständigkeit per se schon einmal gemacht hat, und das hatte ich ja nach dem Studium mit einem eigenen Architekturbüro, dann weiß man, was das bedeuten kann. Ich hatte keine Lust, mit biometrischen Passbildern, kitschigen Hochzeitsfotos und klischeelastigen Paarbildern mein Geld zu verdienen. Eine im Kunstmarkt arrivierte Fotografen-Größe, für deren Fotos man entsprechendes Geld ausgeben würde, war ich auch nicht. Auf der anderen Seite war ich nach 14 Jahren schon auch desillusioniert und ausgelaugt vom Architekt-Sein oder besser gesagt der Bau- und Planungsbranche. Das hat viele Gründe, die zum einen außerhalb meiner Person liegen. Zum anderen spürte ich immer deutlicher, dass mein Hobby sich eigentlich mehr nach Berufung anfühlt. Mehr als der Beruf, den ich studiert und zu dem Zeitpunkt auch erfolgreich praktiziert hatte. Der ausschlaggebende Moment war dann, dass mich ein am hiesigen Theater arbeitender Bekannter mehrfach ansprach, ob ich mich nicht um die freiwerdende Stelle als Theaterfotograf bewerben wollte. Ich hielt mich selbst für ungeeignet und rechnete mir keine großen Chancen aus. Doch um später nicht über Konjunktive nachdenken zu müssen, habe ich es dann doch getan. Überraschenderweise habe ich mich im Bewerbungsverfahren unter recht vielen Bewerberinnen und Bewerbern durchgesetzt. Als der Anruf kam, dass ich die Stelle bekommen hatte, war ich platt – aber es gab auch kein Zurück mehr. So wurde ich Theaterfotograf.

Inwiefern hilft dir deine Erfahrung als Architekt im Fotostudio?

Wenn ich Bilder bearbeite, stellt die Auswahl der „richtigen“ Bilder einen sehr großen Teil der Arbeit dar. Über die Jahre habe ich festgestellt, dass Achsen und Proportionen eine ungemein wichtige Rolle beim Bildaufbau spielen. Das hört sich trocken und geometrisch an, ist es aber ganz und gar nicht, wenn man bedenkt, dass es weitaus mehr als Mittelpunkt, Drittel und Goldenen Schnitt gibt. Selbst das schrägste, chaotisch anmaßendste Foto sieht schlüssig aus, wenn sich diverse ästhetische Gesetzmäßigkeiten darin abbilden. Es ist wie in der Natur: Selbst das größte Chaos hat eine Ursache und folgt gewissen Gesetzen. Deswegen sind in der Natur auftretende, scheinbar zufällige Formen immer auch ästhetisch. Als Architekt habe ich mich eine Weile mit diesen Themen auseinandergesetzt. Auch Farben, Harmonien, Kontraste, Licht und Schatten sowie deren Auswirkungen auf die Plastizität eines Objektes sind wichtige architektonisch-gestalterische Aspekte. Aus diesem Wissen schöpfe ich für meine fotografische Arbeit.

Wenn man sich dein Portfolio genauer anschaut, fällt auf, dass du dich gerne auf der dunklen und provokanten Seite der Fotografie bewegst. Wo genau liegt der Reiz für dich?

Abseitiges, Düsteres und Provokantes hat mich schon immer gefesselt. Sicher liegt das irgendwo in der Persönlichkeit verankert. In jedem Fall hatte ich schon als Kind oft das Bedürfnis zu provozieren und Grenzen auszutesten. In gewisser Weise ist es auch sehr aufschlussreich, die Reaktionen von anderen zu sehen, wenn sie mit abgründigen Dingen konfrontiert werden. In meinen Augen sollte man sich jedoch nicht darauf beschränken, sich hämisch darüber zu freuen, dass man bei jemandem einen neuralgischen Punkt getroffen hat. Vielmehr sollte man das Gespräch suchen und hinterfragen und zwar nicht nur die Reaktion, sondern auch die eigene Provokation. Es ist ein interessantes Wechselspiel, das einem sehr helfen kann, Menschen und auch sich selbst zu verstehen.

Fotografie ist eine Form der Kunst. Inwiefern ist sie für dich auch ein politisches bzw. gesellschaftliches Statement?

Ich bin hin- und hergerissen, ob Fotografie wirklich Kunst ist. Es ist viel Handwerk in Verbindung mit Intuition. Das ist aber in der Möbeltischlerei oder beim Instrumentenbau nicht anders. Andererseits stehen beim Fotografieren oft auch Intentionen dahinter, die das Ganze definitiv zur Kunst machen. Für mich ist Fotografie definitiv ein politisches als auch gesellschaftliches Statement. Schon seit ihrer Erfindung war sie extrem eng an die Gesellschaft geknüpft, wobei sie zuerst primär ein dokumentarisches Verfahren war, um „Dinge“ festzuhalten: vom Porträt über die Presse- und Kriegsfotografie bis hin zur Pornofotografie. Schließlich ermöglicht die Fotografie, mehr oder weniger genau das zu zeigen, was real vorhanden ist. Das hat einen so starken Reiz, dass sich die Gesellschaft dessen nicht entziehen kann. Ich will nur ein extremes Beispiel nennen: das Foto von Nick Ut von dem nackten, vor dem Napalm der Amerikaner fliehenden Mädchen Kim Phúc im Vietnamkrieg. Jeder kennt das Bild, und schon Anfang der 1970er Jahre hatte es weitreichende Folgen. Es wurde dann, nachdem es 2016 auf der Facebook-Seite einer großen norwegischen Tageszeitung erschien, von Facebook gelöscht, da es den Richtlinien dieser Plattform nicht entsprach. Zwar wurde die Entscheidung später revidiert, aber so, wie es einst die Wahrnehmung des Krieges verändert hatte, hat es 44 Jahre später ganz andere, sehr kritische Fragen aufgeworfen. Ein anderes prominentes Beispiel ist Helmut Newton, der seinerzeit mit seiner Mode- und Aktfotografie zur Revolution der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Frau beigetragen hat. Oder nehmen wir die derzeitige Instagram-Selfie-Knipserei, die die gesellschaftliche Selbstwahrnehmung und deren soziale Auswirkungen extrem beeinflusst. Auch ich mache mir die politische Dimension der Fotografie zunutze, indem ich auf Neonazi-Demos fotografiert habe, provozierende Aktfotos auf einem ziemlich spießigen Campingplatz gemacht habe oder z.B. in entsprechend provokanten Bildern im öffentlichen Raum zur Auseinandersetzung mit der deutschen Corona-Politik. Anfügen möchte ich, dass das Ganze nichts mit Corona-Leugnung oder sogenannter Querdenkerei zu tun hatte. Es geht um ein kritisches Hinterfragen. Dazu kann die Fotografie dienen.

Gibt es bestimmte Projekte bzw. Bereiche in der Fotografie, denen du dich unbedingt noch widmen möchtest?

Es gibt so vieles, das mich in der Fotografie fasziniert und von dem ich glaube, dass ich es noch nicht kann, noch nicht ernsthaft probiert habe oder mir bisher schlichtweg die Ideen fehlen. Abstrakte Fotografie ist so ein Thema, an das ich mich ehrlich gesagt noch nicht herangetraut habe, das mich aber sehr reizt. Momentan bin ich sehr damit beschäftigt, mich fotografisch zu sortieren, die alten Herangehensweisen zu hinterfragen und neue Wege zu suchen.

Wer oder was inspiriert dich, woher nimmst du deine Ideen?

Ich gehe sehr gern in Ausstellungen. Da bin ich Allesfresser. Alles kann interessant sein. Wenn ich selbst etwas mache, dann stelle ich immer wieder fest, dass es wohl wegen ihrer zeitlosen Allgemeingültigkeit Ikonen wie Lindbergh, Newton, Leibovitz, Salgado, Miller, Reims oder Warhol sind, die eine große Inspiration darstellen – auch wenn man sich da gefühlt immer nur irgendwie mittelmäßig zitierend wiederfindet. Darüber hinaus habe ich auch die scheinbar trashige Art der Fotografie einiger asiatischer Fotografen lieben gelernt. Ich mag deren teilweise dreckige Fuck-Off-Attitüde. So wirkt es jedenfalls auf mich.

Man hört des Öfteren gehört, die Schwarzweißfotografie sei die „echte“ Fotografie, da die Betrachtung des Objekts nicht durch Farben beeinflusst wird. Der Fokus läge dann auf dem Objekt selbst. Wie stehst du dazu, bevorzugst du das eine oder das andere?

Ja, diese Diskussion kenne ich und ehrlich gesagt finde ich sie ziemlich überflüssig. In meinen Augen stellt sich diese Frage nicht. Der Schwarzweißfilm war zuerst da, bevor es technisch möglich war, auch in Farbe zu fotografieren. Die Entwicklung hin zur Farbfotografie war definitiv ein Fortschritt, und es erschließt sich mir nicht, weswegen es verpönt sein sollte, das zu nutzen. In der Tat ist es oft so, dass Reduktion ein Werk aufwertet, den Wahrnehmungsfokus verändert und durch einen gewissen Grad der Abstraktion eine neue Sicht schafft. Das ist etwas, das ich an der Schwarzweißfotografie sehr schätze und liebe. Dennoch wäre es in meinen Augen falsch, Farbe als Stilmittel grundsätzlich abzulehnen. Das stellt nach meinem Empfinden eine Selbstlimitierung dar und so etwas schränkt ein. Ich denke, es macht einen guten Fotografen aus, je nach Motiv die richtige Entscheidung zu treffen, ob Farbe oder nicht.

Mehr Fotografie von André Leischner finden Sie in Séparée No.29

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