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Dynamik des Begehrens

separee
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Julia Bellabarba

Paartherapeutin Julia Bellabara führt an dieser Stelle eine Reihe von kollegialen Gesprächen mit verschiedenen renommierten Sexualtherapeuten über deren aktuelle Veröffentlichungen. Kürzlich sprach sie mit Ulrich Clement, Professor für Medizinische Psychologie an der Universität Heidelberg und Leiter des Instituts für Sexualtherapie Heidelberg.

Julia Bellabarba: Zunächst einmal vorweg: Du bist einer der bekanntesten Sexualwissenschaftler und Sexualtherapeuten Deutschlands, was interessiert Dich am Begehren? Was ist für Dich das Spannende daran?

Ulrich Clement: Man hat sich in der Sexualtherapie lange Zeit vor allem um die sexuelle Funktion, also um das „Können“ gekümmert. Mich interessiert darüber hinaus und weit mehr die Perspektive des „Wollens“.. Das wird normalerweise so verstanden: Funktionieren ist gut, Nicht-Funktionieren ist schlecht. Beim Begehren ist die Sache individueller, vielfältiger und auch mehrdeutiger. Beim Funktionieren ist die Frage „Klappt es oder klappt es nicht?“ zwar individuell wichtig, aber theoretisch weniger interessant als die Dynamik des Begehrens.

In Deinem neuen Buch greifst das Thema Fantasien auf. Welchen Stellenwert haben deiner Meinung nach sexuelle Fantasien?

Sie trotzen der Enge und der Unvollkommenheit der realen Welt. Sie füllen die Leerstellen des Lebens, und damit schaffen sie autonome Freiräume. Eines der ersten Bücher dazu, Nancy Friday’s „My secret garden“, drückt das im Titel sehr schön aus. In unseren Fantasien haben wir Zugang zu einer ganz eigenen geheimen Welt, die uns ganz allein gehört, da kann wachsen, was wir wollen. Fantasien entstehen sowohl aus dem Defizit, wenn es uns in erotischer Hinsicht an etwas mangelt, oder aus der Fülle. Aus unserer Fähigkeit, die Welt erotisch zu besetzen.

Apropos Fantasien. Mich hat gewundert, dass in der neuen Hamburger Studie “Studentensexualität im Wandel“ wenig Unterschiede zwischen jungen Männern und Frauen bei den phantasierten Themen auftraten. Die jungen Männer und Frauen hatten eine hohe Übereinstimmung bei der Häufigkeit, mit der sie ungewöhnliche Praktiken (wie BDSM) fantasieren.

Ja, das hat mich auch überrascht. Es galt ja früher immer, dass diese ungewöhnlichen Vorlieben eher männlich sind. Und nun zeigt sich, bei diesen Interviewpartnern, dass sie ziemlich geschlechtergleich geworden sind. Vor allen Dingen dadurch, dass die Frauen aufgeholt haben. Dass also ungewöhnliche Praktiken eine Vorliebe nur von Männern sind, das kann man so nicht mehr sagen

Wie erklärst du dir das?

Das Begehren ist offener geworden. Es gibt mehr Variationen, und gleichzeitig weniger Normen, zumindest ist die Unterscheidung zwischen normal und nicht normal aufgeweichter. Die pathologisierende Perspektive ist weniger vordergründig, und man kann viel mehr machen, ohne zensiert zu werden oder sich selbst zu zensieren. Das bedeutet für mich auch eine Abkehr vom deterministischen Konzept des „Triebschicksals“ und betont eher die Wahlmöglichkeit. Aber Freiheit ist auch immer anstrengend, denn dann steht wieder das Thema Eigenverantwortung im Vordergrund. Erst wenn wir ja UND nein sagen können, sind wir in unserer erotischen Selbstbestimmung gefragt und gefordert.

Zurück zum Begehren, zum Verhältnis Bindung, Autonomie und Erotik. Ich finde das Zitat „fire needs air“ interessant.

Ja, Leidenschaft braucht Luft. In diesem Satz liegt auch, dass zu viel Nähe, zu viel Enge, die Leidenschaft ersticken kann. Es braucht Luft zwischen den Partnern, einen gewissen Abstand, den man immer wieder verändern kann. In der Beweglichkeit zwischen Abstand und Nähe ist Leidenschaft möglich. Also, im Oszillieren zwischen nah und fern. Diese Ambivalenz ist auf der partnerschaftlichen Ebene allerdings schwer auszuhalten. Damit zu spielen, kann eine Gratwanderung sein.

Das Gespräch mit Ulrich Clement führte Julia Bellabarba, Paartherapeutin in Berlin. Sie führt Therapiegespräche auf Deutsch und Englisch. http://paartherapie-coupletherapy.de/

201 Seiten, Kt, 2016

ISBN 978-3-8497-0111-6

21,95 €

http://www.carl-auer.de/

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