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Heinrich, der Wagen bricht

separee
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Hannah Brandt

Körper-Entpanzerung, auch bezeichnet als Armour Lifting Bodywork bzw. bekannt unter der geschützten Bezeichnung Dearmoring, ist eine Technik, um alte einengende Erlebnisse aufzulösen und mit sich selbst wieder in Kontakt zu kommen. Unsere Autorin Hannah Brandt hat es ausprobiert.

  • Text: Hannah Brandt
    Foto: ArtCoreStudios - pixabay.com

Meine Generation hat das Ausmisten entdeckt. Nach Bestsellerbüchern zum Simplifizieren kann man sich mittlerweile auch im Fernsehen anschauen, wie man sich sinnvoll von Überflüssigem trennt. Denn seien wir ehrlich: Die meisten von uns besitzen zu viel unnützen Ballast, den wir seit Jahren und von einem Ort zum nächsten unsortiert mitschleppen. Was für Materielles gilt, gilt auch für unsere seelischen Altlasten. Für deren Entsorgung gibt es mittlerweile ebenfalls eine Reihe von Methoden und Techniken: ob Psychohygiene, Tiefenentspannung oder Herzmeditation. Eine Freundin erzählte neulich begeistert von „Armour Lifting Bodywork“, einer tantrischen Druckmassagetechnik zur Entpanzerung des Körpers, die mich unwillkürlich an das Ende des Märchens vom Froschkönig erinnerte, als dem treuen Heinrich die Eisenbänder abfallen, die sich ihm vor Traurigkeit über die Verwandlung seines Herren einst ums Herz gelegt hatten. Ganz ähnlich verhält es sich im wahren Leben. Von frühester Kindheit an – so die Theorie – legen wir uns einen Panzer zu, um uns vor schmerzlichen oder bedrohlichen Erfahrungen zu schützen. Gleichzeitig verlieren wir so aber auch den Kontakt zu uns und zur Welt und damit ein Stück Lebendigkeit. Ich bin so skeptisch wie neugierig. Aber da sich in über 40 Jahren sicher einiges an Seelenmüll bei mir angesammelt hat und etwas mehr Lebenslust nie schaden kann, buche ich kurzentschlossen bei Kathrin (Name geändert) meine erste Sitzung.

Ich habe nur eine vage Vorstellung, was mich erwartet. Zunächst heißes Kardamomwasser, das Kathrin mir einschenkt. In ihrem kleinen Massageraum liegt eine weiche Matte auf dem Boden. In einer Ecke steht ein Heizlüfter, der leise schnurrt. Ich fühle mich vom ersten Moment an aufgehoben. Sicher. Armour Lifting findet üblicherweise nackt statt. Also ziehe ich mich komplett aus und wickle mich in den Lungi, den Kathrin mir reicht. Sie erklärt kurz den Ablauf der nächsten ein bis zwei Stunden: Sie wird einige Punkte am Bauch, vielleicht später auch im äußeren und inneren Yoni-Bereich drücken. Bei jedem Punkt, den sie presst, soll ich auf einer Skala von 1 bis 5 angeben, wie sehr eine Stelle schmerzt. Ehrlich gesagt, ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie doll doll ist. Und gern laut sein, ermutigt sie mich. Das gehöre zur Entpanzerung und beschleunige diese.

Während der kurzen Vorentspannung frage ich mich noch, wie ich die vor der Sitzung eingegangen Anrufe auf meinem Telefon ausblenden soll. Es ist schließlich Freitagvormittag. Doch kurz darauf bin ich raus aus dem Kopf und drin im Körper. Erstaunlich. Kathrins warme Hände sind eine Wohltat.

Sie beginnt mit einem Punkt irgendwo in meiner linken Leistengegend. Wirklich weh tut es da nicht. Aber warum fängt mein Bein an zu zittern? An einer anderen Stelle spüre ich plötzlich das dringende Bedürfnis laut zu stöhnen. Dann wieder atme ich schwer, als machte ich Ausdauerlauf. Ich bin überrascht, wie unterschiedlich mein Körper auf die einzelnen Triggerpunkte reagiert. Von Schlottern (Angst? Kälte?) bis lautes Lachen ist alles dabei. Ab und an steigen ein paar Bilder auf – das hatte Kathrin im Vorgespräch erwähnt – aber nichts, was sich dramatisch oder traumatisch anfühlt. Nur das Rückmelden anhand der Schmerzskala finde ich schwierig, weil ich diese erst für mich entwickeln muss.

Oftmals reicht bei einer ersten Entpanzerungssitzung schon die Arbeit mit den Druckpunkten im Bauchbereich. Im Vorfeld hatten wir jedoch vereinbart, dass Kathrin auch weitergehen kann, wenn ich das möchte. Und ja, ich möchte. Die Neugier hat schon lange über die Skepsis gesiegt.

Kathrin berührt zunächst meine Yoni außen, dann auch im Inneren mit einer Behutsamkeit und einem Respekt, den ich mir beim Sex von einem Mann wünschen würde. Kein Druck, Erregtsein oder etwas erreichen zu müssen. Es geht nur darum spüren zu dürfen. Ihre Finger bewegen sich wieder zu verschiedenen Punkten. Wieder soll ich angeben, wie stark eine bestimmte Stelle bei einem bestimmten Druck schmerzt. Erneut erlebe ich unterschiedlichste Empfindungen. Wieder ist ein vorherrschendes Gefühl eine große Kälte, die sich in meinem Körper ausbreitet. Wie warm es im Raum wirklich ist, kann ich nicht sagen. Einmal spüre ich auch Kontraktionen eines leichten Orgasmus. Zu keiner Zeit fühlt es sich komisch oder peinlich an, dass mich eine Frau so intim berührt. Ganz im Gegenteil. Aber es ist keine sexuelle Lust. Es ist ein Gefühl der Dankbarkeit, mal nur nehmen zu dürfen, ohne eine Gegenleistung erbringen zu müssen. Sein zu dürfen, sich zu spüren oder vielmehr, sich neu spüren zu lernen. Denn wenn ich ehrlich bin, schlummert meine Yoni in ihrem Panzer. Später lese ich, wie jeder Sex, den man vielleicht nur zu liebe eines Mannes hatte, jede Untersuchung durch einen unsensiblen Gynäkologen, ganz zu schweigen von Vergewaltigungs- und Missbrauchserfahrungen zu Verpanzerungen führen.

Ein letztes Mal streicht Kathrin kraftvoll von meinem Bauch zu meinem Hals, um Energie fließen zu lassen. An die Körperarbeit schließt sich noch eine kurze Ruhephase. Plötzlich höre ich in meinem Kopf Wasser plätschern und sehe ein kleines Baby. Dann ganze Bettenreihen mit Säuglingen. Tränen steigen in mir auf.

Kathrin holt mich sanft wieder zurück. Ich bin etwas benommen. Wir reden noch über meine Erfahrung und was ihr aufgefallen ist, trinken das restliche warme Kardamomwasser und dann mache ich mich auf den Heimweg.

Im Laufe des Tages setzt eine Leichtigkeit ein, so als sei wie beim treuen Heinrich ein Eisenband von mir gefallen. Mein Mann meint am Abend, er würde ein Strahlen in mir sehen, das intensiver sei als sonst. Ich fühle mich gestärkt, auch wenn ich nicht weiß und auch nicht versuche zu interpretieren, was heute ins Fließen gekommen ist, an welcher Stelle der Panzer aufgebrochen ist oder ich ihn vielleicht schon abgeworfen habe.

Weiterführende Informationen zu Bodywork finden Sie in Séparée No.20.

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